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Die mühsame Arbeit im Scriptorium

Wie lange dauerte das Abschreiben einer Bibelhandschrift?

 

Bis weit nach Mitternacht gearbeitet!

 

In einer Augsburger Bibelhandschrift, die aus zwei Bänden besteht, findet sich jeweils am Ende der Handschrift eine Notiz des Schreibers (sog. Kolophon), die über die mühevolle Arbeit des Abschreibens Auskunft geben.

 

Die Augsburger Bibelhandschrift ist eine sog. Historienbibel in deutscher Sprache (man vegrleiche diese mit der Vorauer Volksbibel) und wird heute in der Bodleian Bücherei der Universität von Oxford aufbewahrt.

 

 

Am Ende des ersten Bandes steht:

 

Linkes Bild  (Blatt 377v):

 

Hier hat ein end das erste teil der Biblien Geschrieben durch mich heinriczen kunn uon slewc […] 1442 am freytag vor mitter vasten […] czu nurmbergk In der nacht do es schir begund zu slahen drey in dy nacht

(MS. Bodl. 969, fol. 377va)


Hier endet der erste Teil der Bibel, geschrieben von mir, Heinrich Kun aus Schleiz, am Freitag vor der Fastenzeit in Nürnberg, mitten in der Nacht um drei (Uhr).

 

Der erste Band wurde um drei Uhr morgens fertig (wenn der Mönch morgens um vier Uhr mit seinem Stundengebet begann, gab es also wohl keinen Schlaf in dieser Nacht) aber man erahnt die Erleichterung, dass dieser Band nun fertig ist.

 

Aber es sollte ja noch ein 2. Band folgen mit dem Rest des Alten Testaments und dem ganzen Neuen Testament ...

 

Diesen 2. Band vollendete der Schreiber am 27.8.1442 und schrieb:

 

 

Rechtes Bild  (Blatt 322v):

 

geendet dornach in dem zwey vnd virczigsten Jare am montag In mittag nach sant partholomeus tag des heiligen zwelff poten. Ich was nye so fro vncz do schreib finito libro.

(MS. Bodl. 970, fol. 322vb)


Endgültig beendet in [14]42 am Montag zur Mittagszeit nach dem Tag des Heiligen Bartholomäus, des Apostels. Ich war noch nie so glücklich, wie als ich finito libro (=„Buch fertig“) geschrieben habe!

 

 

Der erste Band umfasst 371 beschriebene Blätter (742 Seiten) bei einer Blattgröße von 39 x 37,5 cm! Die großformatigen Blätter sind zweispaltig beschrieben mit jeweils 79 Zeilen pro Seite.

 

Der zweite Band unfasst 320 beschriebene Blätter (639 Seiten / das letzte Blatt ist nur auf einer Seite beschrieben).

 

Der Schreiber hat also insgesamt 691 Blätter (= 1381 Seiten) beschrieben!!!

 

 

Der ganze Text des Kolophons vom 1. Band:

Hie hat ein end das erste teil der Biblien Geschriben durch mich heinriczen(n) kun(n) uon slew/ecz der gepurte In dem Jar vnsers herren Ihu xpi do man czalt uo(n) der gepurte dez heylantz der werlt tausen Jare vnd vierhunderte Jar vnd czweyvndvyrczig Jare am freytag uor mitter vasten oder an sant Candicus tage zu nurmbergk In der nacht do es schir begond zu slahen drey in dy nacht · Quis hoc scribebat trisillaba(m) nomen habebat · Quid quit emisit scriptor · Hoc debet corriger lector · Quis istum librum furetur Tribus sonis suspendetur · Ich was nye also fro · vncz pis ich schreib finito libro · Seyt gedechtig mein · durch got vnd sein(er) pein · Di er geliden hat · durch vnser missetat · Explicit hoc pertotum Infunde da mich potum

 

heutiges Deutsch:

Hier endet der erste Teil der Bibel, geschrieben von mir, Heinrich Kun(n) gebürtig aus Schleiz, im Jahr unseres Herrn Jesu Christi, da man von der Geburt des Heilands der Welt 1442 Jahre zählt am Freitag vor der Mitte der Fastenzeit bzw. am St. Candidus-Tag [= 11. März] zu Nürnberg in der Nacht, als es beinahe schon drei [Uhr] nachts war. Wer dies geschrieben hat, hat einen dreisilbigen Namen.* Was auch immer der Schreiber ausgelassen hat, das muß der Leser verbessern. Wer dieses Buch stiehlt, wird mit dem Tritonus aufgehängt werden.**

Ich war noch nie so froh als bis ich schrieb: finito libro [= Buch fertig]

Gedenket mein [= denkt an mich] durch Gott und seine Pein, die er gelitten hat durch unsre Missetat. Es geht alles hier zu Ende (Explicit = Endkommentar). Gießen Sie das Ganze hinein, geben Sie mir etwas zu trinken [oder: Dies ist vollständig ausgeführt; schenk ein, gib mir was zu trinken].

 

 

* Der dreisilbige Name ist hier vermutlich „peccator“ = Sünder. Bei Augustinus (Sermo 393 De paenitentibus) heißt es: „Peccavi; sed in his tribus syllabis, flamma sacrificii cordis ascendit in caelum.“ = Ich habe gesündigt, aber in diesen drei Silben steigt die Flamme des Herzensopfers in den Himmel.

 

** Der Tritonus (= die verminderte Quinte) galt im Mittelalter als „Teufelsintervall“ bzw. als der Teufel selbst. Man könnte auch übersetzen: „Wird vom Teufel selbst gehenkt / geholt werden.“

 

*** Grammatikalisch korrekt müßte es hier „mihi“ heißen, es gibt auch die Variante „michi“. Eventuell hat der Schreiber das i aus Gründen des Versmaßes weggelassen, eventuell ist das „mich“ aber auch absichtlich falsch und scherzhaft gemeint, wie wenn jemand sagt: „Gib mich was zu trinken!“

 

 

Und das Kolphon am Ende des 2. Bandes lautet vollständig:

Hy hat ein end das puch apokalippsis Das do ist das leczte puch in d(er) biblien der heiligen geschrifte Got d(er) allmechtig uater vnd der h(er)re ihus xpus sey gelobt vnd geert in den werlten d(er) werlt Amen Geschriben durch mich henrice kun nach der gepurt von slewecz aus der stat zu nuernbork in der stat meister vlrich segen smyd gesessen in d(er) zagel aw · angehoben In dem jar vnsers h(erre)n do man zalt uon der gepurt vnsers herren virczehenhundert jar vnd ein vnd virczig jar vnd geendet dornach in dem zwey vnd virczigsten jare · am Montag In mittag nach sant partholomeus tag des heiligen zwelff poten Ich was nye so fro vncz do schreib finito libro

 

heutiges Deutsch:

Hier hat ein Ende das Buch Apokalypsis (= Offenbarung des Johannes). Das ist das letzte Buch der Bibel, der Heiligen Schrift Gottes. Der allmächtige Vater und der Herr Jesus Christus sei gelobt und geehrt in den Welten der Welt Amen. Geschrieben durch mich Heinrich Kun geboren in Schleiz aus der Stadt Nürnberg in der Meister Ulrich Segen sind gesessen (=seinen Wohnistz hatte) in der Zagelau. Angefangen in dem Jahr unseres erhöhten Herrn, in dem man seit der Geburt unseres Herrn 1441 Jahre zählt [angefangen] und beendet danach beendet im Jahre [14]42 am Montag zur Mittagszeit [= am 27. August] nach dem Tag des Heiligen Bartholomäus [= 24. August], des Apostels. Ich war noch nie so glücklich, wie als ich schrieb: Buch fertig (=„finito libro“)

 

 

Pro Tag 4-5 Seiten abgeschrieben!

Neben diesen beiden Notizen finden sich in den zwei Bänden vertreut weitere Angaben:

 

Blatt 15v   - Anfangsdatum unbekannt

Baltt 150v  - Hexateuch, Richter, Ruth und Prolog zu Samuel und Königsbücher fertig - 2.11.1441 (Allerseelen) = 37 Tage für 163 Seiten = 4,4 Seiten am Tag

 

Weitere Zeitangaben:

Blatt 232r  - 9.12.1441 (Samstag nach St. Nikolai) = 7 Tage für 38 Seiten = 5,4 Seiten am Tag

 

Blatt 251v - 16.12.1441 (Samstag vor St. Thomas) = 85 Tage für 251 Seiten = 3 Seiten am Tag

 

Blatt 377v - 11.03.1442 = Band 1 beendet

 

Band 2:

Blatt 322v - 27.08.1442 (Montag nach St. Bartholomäus) = 169 Tage für 608 Seiten = 3,6 Seiten am Tag

 

Allerdings wurden bei dieser Berechnung weder Sonn- noch Feiertage berücksichtigt! Die durchschnittliche Schreiberleistung war also noch höher!

 

Aus den Notizen wissen wir, dass mit der Abschrift der Bibel im Jahre 1441 begonnen wurde und diese am 27.8.1442 abgeschlossen war. Auch wenn wir nicht genau das Anfangsdatum wissen, kann man dies indirekt erschliessen, wenn wir vier Seiten am Tag durchschittlich als Rechengrundlage nehmen, müsste die Arbeit an der BIbel in den letzten Augusttagen des Jahren 1441 begonnen worden sein.

 

So darf man wohl annehmen, dass es 12 Monate harter Arbeit waren. Bei durchschnittlich 80 Feiertagen (Sonntage mitgezählt) kommen wir auf ca. 275 Arbeitstage. Wenn der Schreiber in 12 Monaten 1381 Seiten geschrieben hat, dann sind das pro Tag durchschittlich 5 Seiten. Eine gewaltige Schreiberleistung und das Tag für Tag 12 Monate lang,

 

Mehr zu dieser faszinierenden Bibelhandschrift --> HIER

 

--> Hier <--  können Sie selber in der Historienbibel lesen

 

Digital Bodleian [MS. Bodl. 969 / Band 1]
Digital Bodleian [MS. Bodl. 970 / Band 2]

 

 

Auf Blatt 6 von Band 1 bis Blatt 14 findet sich eine inhaltliche Zusammenfassung:

 

Rubrik: Hye hebt sich an di biblien der arme(n) das erste puch heyst gensis vnd hebreysch genant Birsich

 

— Bibel der Armen = arm in Geiste, Ungelehrte, des Lateinischen nicht mächtig

— Genesis heisst auf Hebräisch „Bereschit“ (= Im Anfang)

 

Incipit: Sechs · Got der macht seine werk in sechs tagen · I · er verpote von dem holz des wyssens gutz vnd ubels sult ir nicht essen · II

 

Explicit: XIX der czorne den vnge(re)chte(n) wirt kumen der czorn vncz an daz ent on parmherczikeit her(re) du hast gegrost dein uolk vnd hast es geert und du hast es nit vorsmehte In aller erden hastu in peygestanden

 

Abschluss-Rubrik auf Blatt 14: Hie hat ein end di biblien der arme(n) uber dise puecher got sey lobe vnd danck

 

Beginn des Bibeltextes Genesis 1 (=1. Mose 1) auf Blatt 19

 

Psalm 23 (in der Vulgata Psalm 22 / XXII) auf Blatt 315r

 

Das Neue Testament ist im 2. Band enthalten.

 

Johannes 1 "Im Anfang war das Wort" auf Blatt 251v

 

Lukas 2 - Weihnachtsgeschichte auf Blatt 238r

 

 

Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Dr. Linus Ubl

 

Alle Rechte der Fotos liegen bei

© Bodleian Libraries, University of Oxford

Benutzung laut CC-BY-NC 4.0.

 

Ein herzliches Dankeschön an die Bodleian Bücherei, dass diese eindrucksvolle Handschrift digital abrufbar ist!

 

Und besten Dank an Felix Timmer und Prof. David Trobisch, für die Latein wohl die zweite Muttersprache ist 🙂, sowie an Frau Sonja Stocksmeier, die mit ihren scharfsinnigen Beobachtungen sehr großen Anteil an dem Feinschliff dieser Seite hat und den Anmerkungen*-***! MERCI!!